Däumel::Archiv >> Materialien zur Radverkehrsplanung >> Fahrradverkehr in der Südlichen Friedrichstadt >> Seite 1 | Impressum
Richard Müller / Wolfram Däumel, Broschüre der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987 - Teil 1
Fahrradverkehr in der Südlichen Friedrichstadt

Vorbemerkung

Die IBA legt mit diesem Gutachten eine ihrer letzten Veröffentlichungen vor, die einem verkehrs- und umweltpolitisch immer noch ungenügend beachteten Thema gewidmet ist, nämlich dem Radverkehr. Im verkehrsplanerischen Ansatz der IBA steht dieses Verkehrsmittel gleichrangig neben dem Kraftfahrzeug, dem Fußverkehr und den öffentlichen Verkehrsmitteln. Entscheidender aber ist, daß der Radverkehr auch im Zusammenhang mit der Grünflächenplanung, der Planung von Kindertagesstätten, Schulen und - natürlicherweise - von Wohnungen gesehen wird. Die IBA als Institution mit einem projektbezogenen und fachübergreifenden Planungsansatz war daher prädestiniert für die Initiative zu einem derartigen Gutachten, welches die Realisierung einer sogenannten Velo-Route in Ergänzung zum straßenbegleitenden Radwegenetz vorschlägt.

Diese Velo-Route ist eine vom Straßennetz unabhängige, mehrere Blöcke durchquerende Direktverbindung zwischen dem Kreuzberger Osten und der City bzw. dem Tiergarten und dem Bezirk Schöneberg, die dem Radfahrer mehr Sicherheit sowie die Qualität einer kurzen, gut kenntlichen und stadträumlich attraktiven Wegeführung geben soll. Mit dieser Velo-Route werden nahezu alle bestehenden und zukünftigen Wohnfolgeeinrichtungen der Südlichen Friedrichstadt verbunden, sie ist außerdem gut mit den Radwegen und überörtlichen Radverbindungen der Nachbarbezirke verknüpft. Sie stellt ein echtes Alternativangebot zum Autoverkehr dar, mit dem sich die Chancen für einen Umstieg auf das umweltfreundliche Rad erheblich verbessern dürften.

Das vorliegende Ergebnis ist vor allem den Gutachtern zu verdanken, die die beiden Gutachtenteile erarbeitet haben: Wolfram Däumel und Richard Müller vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club Berlin sowie Susanne Krätz als Architektin. Umso schmerzlicher ist, daß Richard Müller den Abschluß dieser Arbeit nicht mehr miterleben kann, er ist im Juli dieses Jahres gestorben. Übereinstimmung und grundsätzlichem Konsens, welches zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung zwischen den Verfassern, den zuständigen Ämtern und Verwaltungen sowie dem Auftraggeber vorhanden ist, ausreicht, um die abschnittsweise Realisierung der Maßnahme im Laufe der nächsten Jahre sicherzustellen.

Berlin, im Dezember 1987

Günter Schlusche

Einleitung

"'Verkehr' ist in der Umgangssprache, aber auch in der Sprache der Medien und in der Fachsprache der Stadtplaner weitgehend zum Synonym für 'Straßenverkehr mit privaten Kraft­fahr­zeugen' geworden. Diese Ungenauigkeit kennzeichnet eine höchst einseitige Bewußtseinslage im Hinblick auf unsere persönliche Fortbewegung, eine Art der Fixierung auf den Gebrauch des privaten Automobils. Denn der städtische Straßenverkehr besteht mindestens noch aus Fußgänger- und Fahrradverkehr, Straßenbahn- oder Busverkehr. (...) Weniger als ein Drittel der Bevölkerung der Bundesrepublik verfügt regelmäßig über ein Auto. Rund 60 Prozent aller Wege werden in den Städten zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt."

Prof. Dr. Dieter Frick, Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU-Berlin, aus: Wissenschaftsmagazin, Heft 2, Band 2, 1982, S.41

Aus Gründen der Umweltentlastung im Stadtverkehr, zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und zur Deckung des in den vergangenen Jahren entstandenen Nachholbedarfs radfahrgerechter Infrastrukturmaßnahmen für den steigenden Fahrradverkehr ist eine wirksame Förderung des Fahrradverkehrs notwendig.

Diese Notwendigkeit gezielter Fahrradförderung wird heute wohl von keinem Verkehrsplaner und keiner politischen Partei ernsthaft bestritten - entsprechend fahrradfreundliche Absichtserklärungen sind mit der wachsenden Popularität dieses Verkehrsmittels zunehmend auch in den Wahlprogrammen anzutreffen.

Die konkrete Umsetzung fahrradfördernder Maßnahmen stößt jedoch in der Praxis sehr schnell dort an Grenzen, wo etwa die "Leistungsfähigkeit" einer Straße Grundbegriff autoorientierter Verkehrsplanung - angetastet werden soll, wo also der Flächenbedarf des Radverkehrs zu einer Reduzierung der Verkehrsfläche für Kraft­fahr­zeuge führen würde. Der Berliner Radwegebau auf Bürgersteigen bietet zahlreiche traurige Beispiele dafür, zu wessen Lasten hier immer wieder Kompromisse geschlossen werden.

Wenn wie im Fall der Südlichen Friedrichstadt ein ganzes ehemals verödetes Stadtquartier durch Wohnungsbau wiederbelebt und neu gestaltet werden kann, so bietet sich hier auch die Möglichkeit, bei der Verkehrsplanung für dieses Quartier zukunftsorientierte Wege in der Fahrradförderung einzuschlagen. Die von der IBA geplante Ost-West-Fahr­rad­route durch die Südliche Friedrichstadt könnte nicht nur für Berlin ein richtungsweisendes Modell werden.

Das Radverkehrsnetz in Kreuzberg

Planung der 70er Jahre

Nachdem lange Zeit die Aufmerksamkeit in der Verkehrsplanung nur auf den Autoverkehr gerichtet wurde, kam Mitte der 70er Jahre in Anbetracht eines steigenden Umweltbewußtseins die Forderung nach einem Radverkehrsnetz auf. So beschloß die BVV Kreuzberg 1978 ein Radwegekonzept, das den Radverkehr sicherer machen sollte. Es wurde ein flächendeckendes Wegenetz entworfen, das entgegen den Forderungen der Verkehrsbürgerinitiativen fast nur aus baulich angelegten Radwegen bestand. [22] Auch wurden die geforderten Qualitätsmerkmale nicht erfüllt. Aus einer Pressemitteilung der BI Westtangente vom 22.09.1978: "(...) Nebenstraßen werden als FAHRRADSTRASSEN ausgeschildert. (...) Radfahrwege sind radfahrgerecht auszubilden, das heißt ohne Stufen, Hindernisse, mit weiten Radien und stoßfreien Auffahrten. Radwege dürfen nur im Sonderfall schmaler als 2 Meter sein und müssen ein gefahrloses Überholen der Radfahrer untereinander erlauben. Im Kreuzungsbereich und in engen Straßen bietet die Anlage von Fahrradstreifen mehr Sicherheit." Es wurden meist schmale Radwege auf Bürgersteigen angelegt, die durch einen kleinen Bord vom Fußgängerbereich getrennt sind. Unübersichtliche Verschwenkungen mit kleinen Kurvenradien wurden bei Hindernissen wie U-Bahn-Eingängen, Schräg-Parkhäfen oder Bäumen angelegt.

Erfahrungen mit den seither angelegten Radwegen
Foto:
Radweg benutzen = Hindernisfahrt! Ob Baustelle, Sperrmüll oder parkende Autos - der Radweg ist immer wieder versperrt, oft ist nicht einmal ein Umfahren der Hindernisse möglich.

Auf den Bürgersteig-Radwegen kommt es ständig zu Konflikten mit Fußgängern und deren Hunden. Die Radwege sind für Fuß­gänger nicht deutlich genug als Fahr­bahn erkennbar. Teilweise bleibt Fuß­gängern aber auch nichts anderes übrig, als auf dem Radweg zu laufen. Diese Situation ist oft vor Geschäften mit Auslagen auf dem Bürger­steig zu beobachten. Da die Ver­sorgungs­leitungen meistens im Bereich der Radwege liegen, zwingen viele Baus­tellen den Rad­fahrer zum Aus­weichen auf den Geh­weg oder die Fahr­bahn. Falsch parkende Kraft­fahr­zeuge und Sperr­müll haben die gleiche Wirkung. Ein Über­holen lang­samer Rad­fahrer durch schnellere ist nicht oder nur durch Benutzen des Geh­weges möglich.
Weit gefähr­licher aber sind die sich erge­benden Konflikte mit Kraft­fahr­zeugen an Kreu­zungen und Ein­fahrten. Hier kommt es schwer­punkt­mäßig zu Unfällen. Haupt­ur­sache ist die fehlende Sicht­bezie­hung zwischen rechts oder links abbiegendem Kraft­fahr­zeug und gerade­aus fahrenden Rad­fahrern. Die Sicht­behinder­ungen entstehen meistens durch bis dicht an die Kreuzung heran­reichende Stell­plätze für Kraft­fahr­zeuge. Teilweise versperren auch Schalt­kästen oder Pflanzungen die Sicht. Häufig vergessen Kraft­fahrer vor dem Abbiegen den 'Radfahrer­blick' nach rechts hinten.

vorherige Seite Seitenanfang nächste Seite